Spielende Zeichen
1995
Flügelmetamorphose
1991
Vierzehn- Bilder-Bild
1995
Vogelträume
1995
Fest auf Olymp
1996
Halbschatten
1995




Der Tanz kann als eine zentrale Figur in den Bildern von Kirill Lilbock verstanden werden. Der Rhythmus der Formen und der Rhythmus der inhaltlichen Elemente ist der des bacchantischen Tanzes.

Seit der Maler vor 23 Jahren aus der Sowjetunion emigrierte, womit er ein Klima der Isoliertheit als Künstler und der psychologischen Einengung im allgemeinen verließ, ist seine gesamte Malerei identisch mit der Freiheit, malen zu dürfen - der wiedergewonnenen Freiheit des „Kindes" (so nennt er es selbst), als das er in Gestalt des kleinen roten Seelenfigürchen still dem flutenden Raum seiner Bilder innewohnt .

Die inhaltlichen Elemente seiner Malerei sind Menschen und Tiere aus einem oder wenigen Pinselstrichen; oder Pinselstriche an sich, die sich zu einem abstrakten Formgebilde zusammenballen oder eine Schicht in einem Raumkontinuum bilden. Durch einen Kopf - einen Tupfen - und eine etwas komplexere axiale Bildung wird ein Pinselstrich zur menschlichen Figur. Darüber hinaus unterscheiden sich Strich und menschliche Figur aber nicht wesentlich im Individualitätsanspruch. Zwischen ihnen liegt nur eine dünne Schicht der Verwandlung.

Der Körper des Tänzers verwandelt sich in der Bewegung. Je tiefer er im Tanz ist, um so mehr wird er zur Bewegung, zu dem, was die Bewegung beschreibt. Der bewegte Pinselstrich ist im Übergang befindlich: zu der Figur, zu der er wird. Oder es ist die Hand selbst, der wir als jene, die den Linien-Tanz vollführt, folgen - den Linien Tanz, aus dem wie zufällig Formen menschlicher Figuren entstehen, wenn die Linie einen Schwung, eine Wendung mehr vollzieht .

Der Raum bildet sich mit jedem Strich. Striche werden Achsen, Figuren, Schichten; oder ballen sich zu einem Fleck, der sich einschreibt, als Angelpunkt, feste Stelle; Höhle, die jemand bergen kann, als Raum im Raum ; oder eine Gestalt umgibt sich mit einer Stelle Raum, einem Boden. Achsen kippen, Figuren werden zu Vektoren. Die Folge der Striche bildet etwas wie die Bewegungen des Tänzers, die von reiner Bewegung, reinem Übergang nur dort zu etwas werden, wo sie aus eigenem Antrieb ein Zentrum sich bilden; dort wird dann eine Stelle, etwas Statisches, das unserem Gedanken ein Verweilen im Fluß der Verwandlungen erlaubt und auf das wir dann die Bewegungen als ein Sekundäres beziehen können.

Wenn so die Arbeit der Hand der Tanz ist, ist die Arbeit der Gedanken des Malers und unserer nachvollziehenden - der Traum: Wo sich die Gedanken des Träumenden verdichten, gibt es einen Ort; wo es einen Ort gibt, gibt es eine Handlung. Im Traum ist jedoch der Gedanke nichts anderes als der Blick oder das Hinhören des Träumers: Der Blick schafft sich seinen Gegenstand selbst. Wo er verweilt, wo er hinsieht und nicht bloß streift, gibt es etwas Konstantes, das nicht nur Element seines Weges ist; wenn er länger bleibt und kreist, gibt es um das Feste einen Ort, in dem dies gerade Substanz Gewordene sich bewegen kann. Da löst sich die Bewegung vom Blick ab: Es gibt ein sich Bewegendes, dem der Blick nachschauen kann. Bleibt er grübelnd stehen, beseelt der Blick seinen Gegenstand, entsteht ein Subjekt. Die Hand ist der (tanzende) Blick, der Strich ist der Gedanke, der sich selbst Gegenstand

... In den letzten Jahren gibt es nun eine Umbildung dieses scheinbar von Hand und Gedanken selbst generierten Traum- und Himmelsraumes: Dessen inhomogene Dichte und Qualität, dessen Insel- und Höhlenbildungen und Verdichtungen zu statischen Gebilden objektivieren sich auf einer Ebene der Felder und Zeichen. Aus dem Kontinuum, in dem der Blick des Betrachters in demselben Moment Raum entdeckt, wie er die Bewegung des Striches mitvollzieht, entstehen Mehrfeldbilder, wo voneinander abgegrenzte Bereiche dem Blick objektiv entgegenstehen. Mit dieser Objektivierung tritt ein Prinzip der Freiheit thematisch hervor, das auch die älteren beziehungsweise die anderen Bilder kennzeichnet. - Bildtypen lösen bei Lilbock einander nicht als Entwicklungsstufen ab, sondern laufen als eigene Linien nebeneinander her; und kreuzen sich, indem Aufbau und Wirkungsweise innerhalb eines Bildes aufeinanderprallen. Das hervortretende Prinzip ist die Absurdität (ohne die Lilbocks Malerei gelegentlich in reinen Kitsch kippen würde). Absurd ist das vertraute, scheinbar sinnstiftende Nebeneinander von Dingen, die jedoch nichts an deres miteinander zu tun haben, als daß sie nebeneinander stehen. Was sie mehr als nichts miteinander zu tun haben, interpretiert erst in einem zweiten Schritt der Funke der Assoziation - doch bleibt stets unsicher, ob dieser springt. Als Prinzip der Träume und der wildernden Phantasie war die Absurdität immer schon die (Un) Ordnung der Dinge in Lilbocks Bildern. Doch brauchte diese dem Betrachter nicht als Thema auf zuscheinen. Denn er bewegte sich in den Bildern, noch bevor er die Ordnung als solche erkennen konnte, als in einem Traum- oder Vorstellungsraum, und diesen Räumen sind absurde Anordnun gen als Möglichkeit implizit.

In dem neuen Typ der Mehrfeldbilder avanciert die Absurdität nun aber zum eigentlichen Thema, und zwar auf mehrfache Weise. Zum einen schließt die Anordnung der Felder an die der Traumräume an: In ihrem Rhythmus, ihrer Nicht-Tektonik, manchmal Zufälligkeit ist keine übergeordnete Regel vorausgesetzt, die dem Den ken einen Halt verschafft. Vor allem aber ist das Verhältnis der Felder zueinander absurd: Sie berühren einander Kante an Kante als Flächen, zugleich aber bildet jedes Feld eine völlig autonome Räumlichkeit aus - ohne eine andere Vermittlung als das nackte Nebeneinander. In einigen Bildern scheinen die geradlinig abgegrenzten Felder darin, wie sie im Verhältnis zu ihrer Umgebung stehen, aus den räumlichen Inselbildungen hervorgegangen zu sein . Nur daß jetzt nicht mehr der Blick des Betrachters, dem des Malers folgend, den Raum der Insel in demsel ben Moment entdeckt, wie er ihn selbst schafft oder projiziert - als der seinen Raum „vor sich her denkende" Blick des Träumers. Das Feld ist nun objektiv abgesondert, es zerbricht die Illusion, in der zuvor der Blick in einem kontinuierlichen Raum selbst zu wandeln glaubte; und zugleich zer bricht es die Einheit zwischen Maler und Betrachter, in der dieser der Hand von jenem folgte, wie sie Raum, Ding und Bewegung projizierte. Der Bruch verweist in jedem Augenblick darauf, daß wir eine Fläche anschauen, und doch spiegeln die Felder uns noch immer einen Raum vor; einige einen Raum, der malerisch gleich gebildet ist wie in den kontinuierlichen Traumbildern. Mit seinem- Titel „Vogelträume" stellt eines der Mehrfeldbilder die unmittelbare thematische Verbindung zu jener anderen Gruppe her. Tatsächlich ist es nur noch dieses Thema, das die Felder über den Widerspruch hinweg, dem sich unser Blick ausgesetzt sieht, miteinander verbinden kann. Der Vogel sieht seinen eigenen Traum neben sich selbst hin - das blaue Dreieck vor dem gelben Grund, gelb wie das Getreidefeld, Ort seiner Nahrung - auf dieselbe Fläche, dasselbe Reali tätsniveau, auf dem er selber sich befindet.

In der gezielt hergestellten „unmöglichen" Zusammenkunft kategorial verschiedener Bildzeichen erinnern diese Bilder an die Amerikanische Malerei nach dem Abstrakten Expressionismus, etwa an Jasper Johns. Wenn dieser Buchstaben und Zahlen, Flaggen und Zielscheiben auf viefältigste Weise, aber immer widerspruchsvoll mit der offenen Pinselführung, die in der Tradition einer Tiefe und Emotion evozierenden Malerei steht, konfrontiert; dann konfrontiert Lilbock geometrische For men und von Gegenständen abgeleitete Zeichen, die zusammen eine vermutlich nichts verheim lichende Kryptographie bilden, mit seiner eigenen darstellenden Malerei. Der Vergleich erweist jedoch, daß die Unterschiede mehr Aussagekraft haben als die Verwandt schaft. Die zeichentheoretische Konzeption, auf die Johns' Bilder zurückzuführen sind, eignet sich in der Welt vorhandene Zeichen und Bildsprachen an und befreit die Malerei wesentlich von der psychologisch interpretierbaren Bindung an ihren Schöpfer. Bei Lilbock führt die Objektivierung jedoch nie wirklich aus dem persönlichen Bereich heraus. Die Idiosynkrasie der Zeichen - für mich am schönsten das stilisierte Grasbüschel - bindet sie zurück an die individuelle Erfindungs kraft, mit der sich der Maler vergnüglich auf Irrwege begibt. Unpersönlich ist nur die Absurdität.


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Georg Traska
Vogelstimmen
1996
Rot und Blau
1995