Der Tanz kann als eine zentrale Figur in den Bildern von Kirill Lilbock verstanden werden. Der
Rhythmus der Formen und der Rhythmus der inhaltlichen Elemente ist der des bacchantischen
Tanzes.
Seit der Maler vor 23 Jahren aus der Sowjetunion emigrierte, womit er ein Klima der Isoliertheit als
Künstler und der psychologischen Einengung im allgemeinen verließ, ist seine gesamte Malerei
identisch mit der Freiheit, malen zu dürfen - der wiedergewonnenen Freiheit des Kindes" (so nennt
er es selbst), als das er in Gestalt des kleinen roten Seelenfigürchen still dem flutenden Raum
seiner Bilder innewohnt .
Die inhaltlichen Elemente seiner Malerei sind Menschen und Tiere aus einem oder wenigen Pinselstrichen; oder Pinselstriche an sich, die sich zu einem abstrakten Formgebilde zusammenballen
oder eine Schicht in einem Raumkontinuum bilden. Durch einen Kopf - einen Tupfen - und eine etwas
komplexere axiale Bildung wird ein Pinselstrich zur menschlichen Figur. Darüber hinaus unterscheiden sich Strich und menschliche Figur aber nicht wesentlich im Individualitätsanspruch. Zwischen ihnen liegt nur eine dünne Schicht der Verwandlung.
Der Körper des Tänzers verwandelt sich in der Bewegung. Je tiefer er im Tanz ist, um so mehr wird
er zur Bewegung, zu dem, was die Bewegung beschreibt.
Der bewegte Pinselstrich ist im Übergang befindlich: zu der Figur, zu der er wird.
Oder es ist die Hand selbst, der wir als jene, die den Linien-Tanz vollführt, folgen - den Linien
Tanz, aus dem wie zufällig Formen menschlicher Figuren entstehen, wenn die Linie einen
Schwung, eine Wendung mehr vollzieht .
Der Raum bildet sich mit jedem Strich. Striche werden Achsen, Figuren, Schichten; oder ballen
sich zu einem Fleck, der sich einschreibt, als Angelpunkt, feste Stelle; Höhle, die jemand bergen
kann, als Raum im Raum ; oder eine Gestalt umgibt sich mit einer Stelle Raum, einem
Boden. Achsen kippen, Figuren werden zu Vektoren.
Die Folge der Striche bildet etwas wie die Bewegungen des Tänzers, die von reiner Bewegung,
reinem Übergang nur dort zu etwas werden, wo sie aus eigenem Antrieb ein Zentrum sich bilden;
dort wird dann eine Stelle, etwas Statisches, das unserem Gedanken ein Verweilen im Fluß der
Verwandlungen erlaubt und auf das wir dann die Bewegungen als ein Sekundäres beziehen können.
Wenn so die Arbeit der Hand der Tanz ist, ist die Arbeit der Gedanken des Malers und unserer
nachvollziehenden - der Traum:
Wo sich die Gedanken des Träumenden verdichten, gibt es einen Ort; wo es einen Ort gibt, gibt es
eine Handlung. Im Traum ist jedoch der Gedanke nichts anderes als der Blick oder das Hinhören
des Träumers: Der Blick schafft sich seinen Gegenstand selbst. Wo er verweilt, wo er hinsieht und
nicht bloß streift, gibt es etwas Konstantes, das nicht nur Element seines Weges ist; wenn er länger bleibt und kreist, gibt es um das Feste einen Ort, in dem dies gerade Substanz Gewordene
sich bewegen kann. Da löst sich die Bewegung vom Blick ab: Es gibt ein sich Bewegendes, dem
der Blick nachschauen kann. Bleibt er grübelnd stehen, beseelt der Blick seinen Gegenstand,
entsteht ein Subjekt.
Die Hand ist der (tanzende) Blick, der Strich ist der Gedanke, der sich selbst Gegenstand
...
In den letzten Jahren gibt es nun eine Umbildung dieses scheinbar von Hand und Gedanken selbst
generierten Traum- und Himmelsraumes:
Dessen inhomogene Dichte und Qualität, dessen Insel- und Höhlenbildungen und Verdichtungen zu
statischen Gebilden objektivieren sich auf einer Ebene der Felder und Zeichen. Aus dem Kontinuum, in dem der Blick des Betrachters in demselben Moment Raum entdeckt, wie er die Bewegung
des Striches mitvollzieht, entstehen Mehrfeldbilder, wo voneinander abgegrenzte Bereiche dem
Blick objektiv entgegenstehen.
Mit dieser Objektivierung tritt ein Prinzip der Freiheit thematisch hervor, das auch die älteren beziehungsweise die anderen Bilder kennzeichnet. - Bildtypen lösen bei Lilbock einander nicht als Entwicklungsstufen ab, sondern laufen als eigene Linien nebeneinander her; und kreuzen sich, indem
Aufbau und Wirkungsweise innerhalb eines Bildes aufeinanderprallen.
Das hervortretende Prinzip ist die Absurdität (ohne die Lilbocks Malerei gelegentlich in reinen
Kitsch kippen würde).
Absurd ist das vertraute, scheinbar sinnstiftende Nebeneinander von Dingen, die jedoch nichts an
deres miteinander zu tun haben, als daß sie nebeneinander stehen. Was sie mehr als nichts
miteinander zu tun haben, interpretiert erst in einem zweiten Schritt der Funke der Assoziation -
doch bleibt stets unsicher, ob dieser springt.
Als Prinzip der Träume und der wildernden Phantasie war die Absurdität immer schon die (Un)
Ordnung der Dinge in Lilbocks Bildern. Doch brauchte diese dem Betrachter nicht als Thema auf
zuscheinen. Denn er bewegte sich in den Bildern, noch bevor er die Ordnung als solche erkennen
konnte, als in einem Traum- oder Vorstellungsraum, und diesen Räumen sind absurde Anordnun
gen als Möglichkeit implizit.
In dem neuen Typ der Mehrfeldbilder avanciert die Absurdität nun aber zum eigentlichen Thema,
und zwar auf mehrfache Weise.
Zum einen schließt die Anordnung der Felder an die der Traumräume an: In ihrem Rhythmus, ihrer
Nicht-Tektonik, manchmal Zufälligkeit ist keine übergeordnete Regel vorausgesetzt, die dem Den
ken einen Halt verschafft.
Vor allem aber ist das Verhältnis der Felder zueinander absurd: Sie berühren einander Kante an
Kante als Flächen, zugleich aber bildet jedes Feld eine völlig autonome Räumlichkeit aus - ohne eine
andere Vermittlung als das nackte Nebeneinander.
In einigen Bildern scheinen die geradlinig abgegrenzten Felder darin, wie sie im Verhältnis zu ihrer
Umgebung stehen, aus den räumlichen Inselbildungen hervorgegangen zu sein . Nur daß
jetzt nicht mehr der Blick des Betrachters, dem des Malers folgend, den Raum der Insel in demsel
ben Moment entdeckt, wie er ihn selbst schafft oder projiziert - als der seinen Raum vor sich her
denkende" Blick des Träumers. Das Feld ist nun objektiv abgesondert, es zerbricht die Illusion, in
der zuvor der Blick in einem kontinuierlichen Raum selbst zu wandeln glaubte; und zugleich zer
bricht es die Einheit zwischen Maler und Betrachter, in der dieser der Hand von jenem folgte, wie
sie Raum, Ding und Bewegung projizierte.
Der Bruch verweist in jedem Augenblick darauf, daß wir eine Fläche anschauen, und doch spiegeln
die Felder uns noch immer einen Raum vor; einige einen Raum, der malerisch gleich gebildet ist
wie in den kontinuierlichen Traumbildern.
Mit seinem- Titel Vogelträume" stellt eines der Mehrfeldbilder die unmittelbare thematische
Verbindung zu jener anderen Gruppe her. Tatsächlich ist es nur noch dieses Thema, das die Felder über den Widerspruch hinweg, dem sich unser Blick ausgesetzt sieht, miteinander verbinden
kann. Der Vogel sieht seinen eigenen Traum neben sich selbst hin - das blaue Dreieck vor dem
gelben Grund, gelb wie das Getreidefeld, Ort seiner Nahrung - auf dieselbe Fläche, dasselbe Reali
tätsniveau, auf dem er selber sich befindet.
In der gezielt hergestellten unmöglichen" Zusammenkunft kategorial verschiedener Bildzeichen
erinnern diese Bilder an die Amerikanische Malerei nach dem Abstrakten Expressionismus, etwa
an Jasper Johns. Wenn dieser Buchstaben und Zahlen, Flaggen und Zielscheiben auf viefältigste
Weise, aber immer widerspruchsvoll mit der offenen Pinselführung, die in der Tradition einer Tiefe
und Emotion evozierenden Malerei steht, konfrontiert; dann konfrontiert Lilbock geometrische For
men und von Gegenständen abgeleitete Zeichen, die zusammen eine vermutlich nichts verheim
lichende Kryptographie bilden, mit seiner eigenen darstellenden Malerei.
Der Vergleich erweist jedoch, daß die Unterschiede mehr Aussagekraft haben als die Verwandt
schaft. Die zeichentheoretische Konzeption, auf die Johns' Bilder zurückzuführen sind, eignet sich
in der Welt vorhandene Zeichen und Bildsprachen an und befreit die Malerei wesentlich von der
psychologisch interpretierbaren Bindung an ihren Schöpfer. Bei Lilbock führt die Objektivierung
jedoch nie wirklich aus dem persönlichen Bereich heraus. Die Idiosynkrasie der Zeichen - für mich
am schönsten das stilisierte Grasbüschel - bindet sie zurück an die individuelle Erfindungs
kraft, mit der sich der Maler vergnüglich auf Irrwege begibt. Unpersönlich ist nur die Absurdität.
|