Der Prozeß der Bilder ist nicht abgeschlossen, konkret, die Gestalten in den Bildern sind nicht ganz entlassen, sind immer noch spürbar in einer subjektiven Atmosphäre, sind auch noch nicht ganz Form geworden, einzelnes bleibt unfertig - nicht 'unvollendet' -, manches daher auch
schlicht unerkennbar - nicht 'mysteriös' - für den Betrachter. Viele der Figuren schauen heraus aus dem Bild und stehen dem Betrachter gegenüber, stehen vor ihm - oft auf einer Art Bühne, Arena, in oder vor Schaufenstern; sind Menschen, Spielkartenfiguren, Marionetten, maskiert. Manche stehen auch 'wie auf einer Zeichnung': einer Zeichnung entnommen, etwa einer Kinderzeichnung. Jedenfalls
präsentieren sie: um angeschaut zu werden. Sie scheinen herauszutreten, obwohl sie doch eigentlich stehen oder, wenn, dann sich innerhalb des Bildes bewegen. Heraustreten muß mehr ein zeitliches als ein räumliches sein: um zu dem zu werden, wer oder was sie im Bild dann sind, vielmehr noch nicht sind, sie stehen unter der Befragung und unter dem Pinsel der Malerin und sind Wesens genug, die Malerin und den Betrachter zu fragen, wer sie seien oder werden könnten. Das ist auch Aufforderung: daß der Betrachter - in Verlängerung der Malerin, der ersten Betrachterin - sie zu etwas werden läßt. (Sie spielen sich 'mal ein bißchen auf.)

An irgend einer Stelle haben die Figuren also einmal begonnen, von der sie jetzt herausgezogen werden von Maria R.. Die Stellen sind primär in deren Erinnerung und Phantasie, aber nicht unbedingt. Es kann auch tatsächlich eine Kinderzeichnung sein, die genau ins Bild übertragen wird, genau der Linie nach oder aber ganz genau dem Ausdruck jeder Linie nach ("archäologisch"), ein anderes Gemälde, ein Photo oder ein Stück Literatur. Diese Stellen des Beginnens sind für jedes Bild verschiedene und bleiben unterschieden. Nicht wie in Collagen, aber unterschieden. Bearbeitet - sofern es um schon in der Realität vorhandene Bilder geht - nicht bloß durch Isolierung, Fragmentierung und Übertragung, sondern integriert in ein Gemälde. Solche präexistente reale Bilder sind hineingemalt. Und die Elemente aus Maria R.'s Kopf sind herausgemalt.
Es sind offensichtlich lange und langsam gemalte Bilder, reich an Farbschichten, die nach und nach Farbraum, -rhythmus und Gesamtton modulieren: teils zögerlich, mit einer gewissen Brüchigkeit des nicht in Einem Durchgezogenen, wodurch Zwischenräume, nicht geschlossene, unentschiedene Passagen stehen-bleiben. Damit bleiben die Bilder immer noch wandelbar, könnten auch in dem Zustand, in dem sie schließlich belassen sind, noch eine diametrale Richtung nehmen (viele Flächen sind mit einer Komplementärfarbe oder jedenfalls mit einem gegenüber dem darunterliegenden stark kontrastierenden Ton übermalt, wobei die Ubermalung als solche sichtbar bleibt, sei es, daß die Farben sich vibrierend in Schichten mischen, sei es daß Ränder stehenbleiben, die etwas von der anderen Möglichkeit offenlassen). Auch sind sie nicht sehr kontinuierlich gemalt in fortschreitender regelmäßiger Verdichtung, sondern in Abschnitten, deren ungleiche Konzentration auf verschiedene Stellen nie ausgeglichen wird. Es gibt also eine starke malerische Durcharbeitung in einer persönlichen Faktur, und zugleich kann man den einzelnen Elementen die nach verschiedenen Kategorien unterschiedliche Herkunft noch ansehen.

Das Bild, das gerade gemalt wird, ist ein besonderer Ort, auf halbem Weg: einerseits zwischen Bildern, die aus dem Innern kommen; und andererseits präexistenten realen Bildern und der dinglichen Wirklichkeit, auf die das gemalte Bild im allgemeinen bezogen bleibt (sein mimetischer Anteil). Eine Art Theater, Platz einer gewollten Zusammenführung von Wesen, die sonst nicht zusammenkämen - und immer, wenn sie einander auf einem Bild begegnen, beginnt mit ihnen eine Geschichte, die die an ihrem Beginn vagen Wesen übernimmt und mit ihnen waltet, ihnen erst durch wechselseitige Veränderung ein deutlicheres Gepräge verleiht. "Immer kommen mir diese Geschichten dazwischen", hindern die Malerin an einer ruhigeren organischen Entwicklung der einzelnen Gestalten. Mit der Umgebung und den Umgebungen (potentiell kann jede Figur eine Umgebung mitnehmen) in einem Bild geht es nicht anders, sie können im Zug ihrer bewegten Konkretisierung auch ambigue werden - in "Grüne Wolke" ist eine Umgebung Landschaft und Bühne zugleich und grenzt unvermittelt an eine städtische Straße (die einmal aus Wiener Gründerzeithäusern hätte bestehen sollen). In der Landschaft-Bühne "gehen miteinander'' eine lebendige Puppe, die ein geblümtes Mini-Kleid (das einem ähnelt, das die Malerin einmal getragen hatte) trägt und in ihrer Linken einen Leoparden aus Stoff, und einer, der hauptsächlich eine ziemlich abstrakte, recht scharf geschnittene grau-schwarze Maske trägt, eine vielleicht afrikanische Maske, vielleicht auch eine antike Theatermaske. Dahinter - nur in einigen blauen Konturlinien - "vergnügt sich eine sehr, sie ist ganz frei und frech". Vor der Hausfassade im linken Bildteil steht einer, der eigentlich in einem Baum sitzen wollte, schließlich wächst er selber mit seinem Bart heraus und schaut zufällig nach rechts. Neben ihm eine Schattenfigur.

Was so beschrieben ephemer und zufällig erscheint an diesen Gestalten und ihrem Zusammentreffen, ist aber doch so genau gemalt: reich variierte Töne, langsam durch Schichtung zu starker Sättigung gebrachte Flächen, große Vorsicht auf die Übergänge und Grenzen angewandt - sosehr der Körper des Maskierten indifferent bleibt, dunkle körperlose Fläche mit unförmigen Ansätzen von Armen, so fein differenziert sind auf enger Fläche die mehrfachen Konturen und der Zwischenraum zur Figur neben ihm. Die Farbe als Lichtsituation und durch ihre Textur die körperliche Konsistenz der Dinge bildend ist nicht leicht, nicht einfach (gar nicht schematisch), von einer Vielfalt des Konkreten, Realen. Davon erst heben sich ab die schemenhaften, plötzlichen Schattenfiguren auf oder über dem übrigen kontinuierlichen Farbraum, in den die Figuren sonst fest, dauerhafter eingesenkt sind. Dieser Kontrast verschiedener Zeiten, das in der langsamen Faktur Eingebundene gegen die plötzliche Geste an der Oberfläche gesetzt, bestimmt auch die "Madrider Kinostraße". Von einer großen Figur rechts bleiben nur die Hände, erahnbar die Arme, die Scheibe des Kopfes mit einem Fleck übermalt. Darüber oder davor in abgerissenen Linien und Flächenstücken, dominiert von dem schroffen, diskontinuierlich gesetzten Orange eine Marionette: geführt von den Händen dahinter - oder sind es doch ihre viel zu großen Arme? Die Geste des Marionettenspielers geht auf die Marionette über, der Mensch verschwindet hinter der Marionette oder einverleibt sich ihr.

Die ephemeren Wesen - Puppen, Maskierte, menschliche Maschinen - und Orte - Bühne, Arena, Schaufenster - sind allgemein nicht klar unterschieden von 'realen' Wesen und Orten (ich übernehme die Bezeichnungen gelegentlich einfach von der Malerin), ohne daß da ein Dämonium entstünde. Vielmehr scheint der ephemere Charakter der Malerei selbst auf ihre Gegenstände überzugehen. Sie verlieren nicht ihre Lebendigkeit, indem sie nur einen Schein von Lebendigkeit vorspiegeln - nicht sosehr ist das Ephemere dargestellt -, sondern ihre Lebendigkeit ist ephemer: Eintagsfliegen der Malerei als eines Mediums, das nie ganz heraustritt aus der Welt der Imagination. (Logisch könnte man von einer Verschiebung des Manko an Wirklichkeit sprechen: Der dauerhafte, uns aber als solcher immer bewußte Schein der Malerei ist identifiziert mit einer 'unwirklichen' Kurzlebigkeit, Erscheinungshaftigkeit imaginierter, geträumter oder nur-erinnerter Wesen.) In diesem Sinn hat Maria R.'s Malerei auch 'psychologische' Bedeutungen. Umwandlungen und Begegnungen sind nicht nur ein Spiel auf der Oberfläche der Malerei, sondern sind einem individuellen Phantasieren entsprungen, in dem diese Prozesse eine konkretere Funktion haben - wenn man so will, einer Semantik der Verarbeitung entsprechen. Nicht die lebensgeschichtlichen Inhalte dieser Psychologie vermitteln die Bilder - diese würden nur über Erklärungen verständlich oder bleiben überhaupt nur - auch im Bewußtsein der Malerin - implizit: spürbar als wirksam in einer 'Formgeschichte'. Wichtiger als die Rückführbarkeit einer Formgeschichte auf eine psychische Biographie ist die intensive Motivation zur malerischen Artikulation, die auch über den Initialmoment hinaus der psychischen Verwurzelung entspringt. Das ist die ständige Rückfrage, die die ephemeren Wesen über ihr Sein und Werden an die Malerin und in der spezifischen Unabgeschlossenheit der Bilder auch an den Betrachter stellen.

Das Ephemere hat hier zwei Tendenzen. Eine objektivere: bei der es ikonographisch greifbar wird,. Die vom Titel her so gekennzeichnete "Madrider Kinostraße" - Erinnerung an eine Reise - zeigt doch unmittelbar nichts von Kino, sondern Raumkompartimente, die die Malerin als Schaufenster bezeichnet. 'ln'/vor einem die bereits beschriebene Marionette. Links davon zwei Figuren, deren rote, mit der orangen der Marionette korrespondierende Zeichnung sich seltsam von den Figuren abzuheben scheint. Sie bilden die Bildmitte und sind zwei scharf aneinandergrenzenden Hintergrundzonen zugeordnet - tatsächlich prallt auch die rechte Dame (?) mit seitwärtsgewendetem Kopf auf den Kabuki-Schauspieler, der vielleicht unter der Wucht der Begegnung kurz die Augen zudrücken muß. Etwas nach unten gerutscht verselbständigt sich der Hüftknochen der rechts Herandrängenden, der freilich auch einer Schleife gleicht. Im linken oberen Kompartiment, dessen Rahmenform an einen Fernseher denken läßt, sehen wir frontal einen Herrn melancholisch runder Augen, einen DJ (nach Auskunft der Malerin). In "Fächer" kontrolliert ein Fächer von vorne quasi als Paravent oder wie von einer Loge herab das Getümmel des Bildraumes, dessen zentraler, hellgelb hinterlegter mittlerer Abschnitt eine Bühne sein kann.

In der zweiten Tendenz des Ephemeren bleiben die Bilder und Bildungsprozesse unmittelbarer auf innere Prozesse bezogen. "Bär mit Banane" hatte mit drei Selbstbildnissen begonnen, als ein eher gequältes Bild. Im Verlauf des Malens haben sich die Figuren und die 'Gesamtverfassung' des Bildes gewandelt. Zwischen den beiden oberen Figuren hat sich "ein Jung-alt-Verhältnis herausgeschält". Der untere Kopf, wo vom Selbstbildnis nur noch das Auge geblieben ist, war dann der einer "ihr nicht wohlwollenden Person", der sie schließlich entkam, indem sie sie in einen Lederkopf eingepackt hat. Einem roten und einem blauen ungarischen Schweinchen geht's nur gut; nicht minder dem Bären, der sich mit einer Banane in der Hand von einem Regenbogen herunterläßt. In ein Verhältnis fragender Spiegelung mit der ihnen gegenüberstehenden Person vor dem Bild (Malerin .und Betrachter) treten alle großen, aus dem Bild frontal herausschauenden Figuren. Die Protagonistin von "Spielkarte" spiegelt sich in einer Drehung um 180°, eben wie in einem Kartenspiel. Die dominierende aufgerichtete junge Frau schaut nun explizit herausfordernd oder fragend aus der Drehung ihres hübschen Kopfes den Bildbetrachter an, hält ihn in Schach mit ihrer balancieren- den Geste, irgendwie weisend ihre linke Krebszangen-Hand, die krebsroten Hand- und Fingerballen der Rechten Einhalt gebietend. Ihre Spiegelung ist nackt, mit ausgebreiteten Armen, von Wasser-Blau umgeben erschrickt sie wohl von dessen kühler Erfrischung. Noch weitere drei Mädchen sind alle frontal und untereinander beziehungslos an die Bildränder plaziert, scheinen so drei weitere Möglichkeiten aus der einen und zwei herausgedreht: eines mit Pferdeunterkörper, eines springschnurspringend und eines ist eine Kinderzeichnung. Der Fuß links ist übermütig oder etwas gewalttätig, stört, verbindet aber auch ansatzweise zu einer Erzählung.

Freilich kann das Bild auch die Grenze zwischen diesen beiden Tendenzen auflösen: veräußert sich das Imaginieren weiter in die Geschichten der Malerei - Geschichten, die aber stets noch auf zwei Achsen zugleich sich bilden: einer von der Malerin ins Bild hinein, durch seine Entstehung, Wandlungen hindurch; die andere im Bildraum zwischen deren Wesen. Sicher die große Raubkatze links in "Spätherbstliche Grotteske", vielleicht auch das auf der Mauer sitzende Paar haben aus dem Bild herausgeschaut, wie des Frosches "glasiger Blick" noch immer. Die Köpfe sind nun aber stark übermalt, die Ubermalung unerfüllt ihre einmal sprechende Ausrichtung, die Köpfe des Menschenpaares werden tierisch, korrespondieren im Nebeneinander mit den Tieren (die Frau ist "katzenhaft"). Ihr je nur eines aufgemalte Auge hat keinen Sitz, ist blicklos. Das Bild aber "ist erfüllt von Gegacker, Tiergelächter". Das Getöne - Maria R. betont, daß sie die Einheit ihre Bilder zu einem wesentlichen Teil über das Zusammenklingen von Tönen und Geräuschen bildet - ist nicht klar ausgerichtet, es könnte auch jemanden auslachen.

Georg Traska

KATALOG  *  KONTAKT




Musiker
1999
Madrider Kinostrasse
1997
Steppentier
1997
Spielkarte
1997
Gruene Wolke
1997
Faecher
1998
Eine spaetherbstliche Groteske
1997
Stadtpflanzen
1998